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Schach im öffentlichen Raum

In dem Artikel Total Unfair habe ich ja geschrieben, dass ich es geschafft habe, immer wieder über meinen Schatten zu springen und Sachen zu machen die ein Autist normalerweise nicht kann. Ich würde sogar sagen dass ich manchmal Sachen mache die sich praktisch niemand traut.

Wenn man irgendwas schachtechnisches (englischsprachiges) bei Youtube gesehen hat, dann kommt man über den Algorithmus früher oder später an Videos über die Chess-Hustler in New York, meistens sind das die Youtuber die mit mehr oder weniger Erfolg dort ihr Glück versuchen - die sind nämlich so stark dass selbst NMs ihre Probleme haben. Ich fand aber die Idee toll und deshalb habe ich mir schon vor einem halben Jahr Brett, Figuren und eine Schachuhr zugelegt mit dem festen Vorsatz, irgendwann mal nach Trier zu fahren und dort auf dem Domfreihof mein Glück zu versuchen.

Schach am Domfreihof in Trier
Schach am Domfreihof in Trier

Wie das auf einem genialen Aufkleber von einem Handwerker-Online-Shop stand: "Machen ist wie wollen, nur härter" kann man ja viel wollen. Seit einem Probeabend im Schachverein weiß ich auch, dass bei mir noch viel Luft nach oben ist und knapp 1800 auf Lichess im Schnellschach noch nicht zum durchschnittlichen Vereinsspieler reichen. Aber habe ja sowieso nicht vor, dabei um Geld zu spielen und ums Gewinnen geht es auch nicht. Wenn ich mich in der Öffentlichkeit exponiert habe dann war es mir immer wichtig so gut zu sein dass ich mich nicht blamiere, das wäre peinlich, vor allem wenn man seine eigenen Fähigkeiten dabei massiv überschätzt hat. Eine Ausnahme dabei wäre höchstens wenn es in ein free-for-all ausartet bei dem jede Menge Leute etwas machen was sie nicht können. Nach der gleichen Logik bin ich damals nach dem Anfänger-Tanzkurs nicht zum Ball gegangen, würde aber heute ohne zu zögern auf einem Konzert tanzen wenn die richtige Musik kommt, selbst wenn es sonst niemand macht.

Aber zurück nach New York. Man findet die Schachspieler dort an zwei nahe beieinanderliegenden Plätzen, dem Washington Square Park und dem Union Square. Man findet das sogar auf Google Street View:

Man beachte, dass die Spielgelegenheiten am Union Square aus klapprigen Campingmöbeln bestehen, während am Washington Square Park richtige Tische schön schattig unter Bäumen vorhanden sind. Nachdem das Wetter ja jetzt bombig sommerlich war und ich mir auch überlegt habe, dass ein Feiertag wohl am Besten geeignet wäre, ich auch noch im Bestand nach Campingmöbeln geschaut habe und ich mit dem Domfreihof auch die richtige Location hatte, stand der ganzen Aktion nur noch der Kampf gegen den inneren Schweinehund im Weg. Geholfen hat sicherlich auch, dass meine Spielstärke stetig nach oben geht, von ca. 1400 als Einstiegswert auf jetzt knapp 1800 und das in 1 1/2 Jahren wenn man die Pausen herausnimmt. Aus Neugier habe ich mir mal alte Spiele herausgesucht und nachgesehen welche Spielstärke meine Gegner von damals aktuell haben - die haben sich nicht großartig verbessert, obwohl sie teilweise auch genausoviel gespielt haben. Lichess sagt mir auch, dass ich besser bin als 75% aller Spieler, also mag ich zwar gegen stärkere Spieler verlieren, aber das zumindest ehrenhaft. In meiner Phantasie (zwar nicht so ausufernd wie die eines INFP, aber immerhin) bekommen die Trierer Schachvereine von meiner Aktion Wind und erscheinen um ihr Territorium zu verteidigen ...

Jedenfalls sind mir einfach die Argumente ausgegangen, es nicht zu tun. Alleine die Tatsache, dass es wohl in Deutschland niemanden gibt der sich mit einem Schachbrett auf einen öffentlichen Platz stellt zählt ja nicht. Außer vielleicht die Spritkosten (eine Stunde Anfahrt), die Parkgebühren (am Feiertag sind die Parkautomaten aus, da kann mit etwas Glück kostenlos parken) und der Schlepperei von Campingtisch, zwei Stühlen, dem Schachspiel, Schachuhr etc. vom Parkplatz bis zum Dom. Ich habe es also tatsächlich gemacht und stand an Fronleichnam um kurz nach zwei Uhr auf dem Domfreihof auf einem schönen Plätzchen im Schatten unter den Bäumen und habe gewartet auf das was kommen möge.

ich stehe tatsächlich am Domfreihof
Schach am Domfreihof in Trier

Und tatsächlich kam ich in den nächsten sechs Stunden auch zu sechs Spielen, unterbrochen von einer Kinderinvasion. Die ersten zwei Spiele habe ich recht deutlich verloren. Der junge Mann hat wohl zuletzt in der Schulschach-AG gespielt und war auch nicht so stark, aber ich habe sowohl mit Weiß als auch mit Schwarz jedesmal gepatzt und was eingestellt. Es ist doch einfach etwas anderes wenn man an einem richtigen Brett mit Schachuhr spielt als online. Die dritte Partie gegen einen in Luxemburg wohnenden Finnen war spannend. Da habe ich auch gepatzt und musste mit meinem g-Bauern schlagen und damit meine Rochade verderben. Ich konnte dann die Bauern aber nach vorne schieben und konnte irgendwann die gegnerische Dame mit einem Bauernabzug gewinnen, nur um in Zeitnot dann meine eigene Dame einzustellen. Spiel vier gegen den sechsjährigen kann man eigentlich nicht zählen, und Spiel fünf gegen seinen Vater konnte ich recht deutlich gewinnen (Amerikanischer Tourist) und das letzte Spiel gegen einen jüngeren Trierer der mit seinen zwei Freunden da war konnte ich auch deutlich gewinnen.

Was aber wichtiger war ist dass alle wirklich sehr nett waren. Ich bekomme das zwar nicht hin während dem Spiel Trash-Talk zu machen wie das die Hustler so machen, aber es sind alle nach dem Spiel geblieben und haben noch das Gespräch gehalten. Eigentlich das was ich vom Spielabend im Schachverein erhofft hatte (die waren aber schweigsam).

Ich weiß nicht ob man hier ein eindeutiges Fazit ziehen kann. Angesichts der Menschenmenge haben sich nur ganz, ganz wenige getraut gegen mich zu spielen und wie nicht anders erwartet auch ausschließlich Männer (ich warte ja immer noch auf den weiblichen INTP). Meine Einschätzung war dass es gar nichts wird, da wurde ich dann ja doch positiv überrascht. Es wäre wirklich eine tolle Sache, wenn sich so was etablieren würde. Schließlich haben die im öffentlichen Raum ausgetragenen Schachpartien ja eine lange Tradition, man denke nur an die in Wiener oder Berliner Kaffeehäusern vor dem ersten Weltkrieg gespielten Partien.

Tja, und einmal Google spuckt mir aus, dass sich tatsächlich hier was tut, zum Beispiel eben in Wien:

Es liegt ja nun wirklich nicht am Geld - so ein Brett kostet 6,50 Euro und der Satz Figuren 10,90 Euro. Nur irgendwie haben die Stadtplaner was gegen Tische und Sitzgelegenheiten werden grundsätzlich einbetoniert, da wäre wirklich Verbesserungsbedarf.

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