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Range - Generalisten in einer spezialisierten Welt

Ich lese ja in letzter Zeit nicht mehr so viel Non-Fiktion. Nachdem ich aber auf Youtube einen Beitrag des Autors gesehen habe, musste ich mir das Buch kaufen:

David Epstein: "Range - How Generalists Triumph in a Specialized World"

David Epstein: Range - How Generalists Triumph in a Specialized World

Kurzfassung: Es hat sich gelohnt.

Der Autor ist Wissenschaftsjournalist und hat - anders als ich das hier mache - neben Einzelschicksalen auch tatsächliche wissenschaftliche Forschungsergebnisse herangezogen. Es geht um das Thema was ich unter "Tausendsassa" schon einmal angeschnitten habe. Nur wirkt das Prinzip dahinter noch viel weiter und tiefer als ich ursprünglich gedacht habe. Hier also verschiedene Aspekte die Epstein anspricht und die ich mit eigenen Erfahrungen ergänzen kann. Um jetzt das Material aus dem Buch von meinen Ergänzungen zu trennen, habe ich das wieder entsprechend formatiert:

Frühe und späte Spezialisierung

Ausgangspunkt ist der Vergleich zweier Sportkarrieren: Tiger Woods und Roger Federer. Der erste hat schon mit zwei Jahren seinen ersten Golfschläger in der Hand gehabt, der zweite hat sich erst mit zwölf (und damit relativ spät) für Tennis entschieden und war mindestens genauso erfolgreich. Damit wird die Frage des "Startvorteils" - dass man nur dann richtig erfolgreich werden kann wenn man sehr früh anfängt - deutlich in Frage gestellt. Damit verknüpft sind verschiedene Erkenntnisse wie das Lernerfolg eben nicht linear ist und ein Startvorteil früher oder später verschwindet oder sogar die Spätstarter die Frühstarter irgendwann überholen.

Und noch viel wichtiger: Es gibt zwei verschiedene Lernumgebungen: gute und böse. Bei guten Lernumgebungen wie Sportarten (sei es Tennis oder Schach) oder auch Musikinstrumenten bekommt man sofort eine Rückmeldung ob das was man macht richtig oder falsch ist. Speziell beim Schach habe ich mit der Wertungszahl ja so meine Erfahrungen gemacht, sie ist zum einen sehr genau und zum anderen frustrierend wenn man nicht weiterkommt.

Aber in der großen weiten Welt gibt es eben immer mehr böse Lernumgebungen, wo es eben keine oder sogar falsche Rückmeldungen gibt ob das was man macht überhaupt richtig war. Als Beispiel liefert Epstein hier einen Arzt der dafür berühmt war Typhus durch Abtasten der Zunge sehr früh und mit einer erstaunlichen Trefferquote diagnostizieren zu können. In Wirklichkeit war er der Überträger und hat die Patienten alle mit seiner Tasterei angesteckt.

Lernen auf die harte Tour

Und für diese bösen Lernumgebungen braucht man eben ein ganz anderes Rüstzeug, das fängt schon damit an wie man lernt. Es gab Studien an Affen über Lernmethoden und Nachhaltigkeit des Lernerfolgs. Man kann zwar kurzfristig schnelle Lernerfolge erzielen wenn man zum Beispiel beim Nichtlösen der Aufgabe einen Hinweis bekommt. Mussten die Affen hingegen ohne Hilfe lernen waren die Ergebnisse der Tests erst einmal furchtbar. Der Unterschied zeigte sich aber einige Zeit später: Was mit Hilfestellung gelernt wurde war schnell wieder weg, was auf die harte Tour gelernt wurde (es sah genauso aus wie man es sich vorstellt: Affen drücken wahllos auf Tasten) hat sich viel besser gehalten.

Und das Prinzip verfolgt mich schon mein ganzes Leben: Ich musste fast alles auf die harte Tour lernen. Meistens gab es niemanden den ich hätte fragen können. Und klar, das hat viel länger gedauert als wenn ich es mir hätte zeigen lassen. Aber dafür ist die Zeit gut investiert denn das so gelernte vergisst man nicht so schnell. Zum Beispiel wollte ich für meinen Kabelkanal Formteile mit dem 3D-Drucker herstellen die es so nicht zu kaufen gibt. Ich hätte natürlich auch den Kanal auf Gehrung sägen können, das hätte auch funktioniert und wäre viel schneller gegangen. Stattdessen habe ich mir flammwidriges PETG-Filament gekauft und wollte drucken - nur dass mir mindestens drei Drucke fehlgeschlagen sind. Es ist komplex, aber im Zuge dieser Aktion habe ich sehr viel über optimale Drucktemperaturen, den Zusammenhang mit Festigkeit, Fäden ziehen, Düsengröße und Klumpenbildung an der Düse, Silikonsocken usw. gelernt. Am Ende hatte ich das gewünschte Ergebnis und jede Menge bleibenden Lernerfolg.

Werde ich hingegen gefragt: "Stephan, kannst Du mir mal helfen?" - das ist natürlich verlockend wenn man jemanden hat der so viel kann und den man fragen kann - dann kann ich mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen dass ich für die gleiche Frage irgendwann wieder gefragt werde weil zwar das Problem gelöst wurde, der Lernerfolg aber gegen Null ging. Es gibt keine Abkürzung und es ist eben faszinierend dass das eben auch wissenschaftlich belegbar ist.

Gerade im Zusammenhang mit Studienfächern wie Jura oder Medizin hat man ja diese unzeitgemäße Situation, dass man für die Prüfungen Unmengen an Stoff auswendig lernen muss und das Meiste danach einfach wieder vergessen wird.

Dabei kann man heute im Internet fast alles nachschlagen während eben Abstrahierung, Konzeptualisierung und richtiges Lernen wie man lernt viel wichtiger wären, zusammen mit einer weiter gefächerten Grundausbildung.

Konzeptualisierung

Zur Abstrahierung gab es Forschungen in der Sowjetunion, wo es lange Zeit noch gottverlassene Gegenden mit Analphabeten gab. Diese Menschen konnten nur im Zusammenhang mit den Sachen denken die sie vor sich haben - das Grundprinzip hinter den Sensortypen. Bei einem Experiment sollten die Dörfler aus vier Gegenständen den benennen der nicht dazugehört: Hammer, Säge, Axt und Baumstamm. Moderne Menschen sehen das Konzept des "Werkzeugs" und der Baumstamm gehört nicht dazu. Die Dörfler haben aber auf den Hammer gezeigt, weil der zur Bearbeitung des Baums nicht nützt. Und diese Abstrahierung setzt sich in einer immer moderneren Welt ja immer weiter fort. Wenn Grundschulkinder lernen, dass man in der Mathematik ein "x" oder anderes Symbol als Platzhalter verwenden kann für etwas das nicht wirklich existiert dann tuen sich viele Kinder immer noch schwer damit.

Für mich war dieses Konzept einfach, ich erinnere mich noch dass wir damit eine Formel aufgestellt haben wie man bestimmen kann in wieviel Jahren die Eltern doppelt so alt sind wie die Kinder:

2 · (K + x) = E + x

Und das wir dann mit diesen Platzhaltern (K = Alter des Kindes, E = Alter des Elternteils und x wie viele Jahre man warten muss) tatsächlich rechnen und nach x lösen konnte:

x = E - 2 · K

Aber dieser Grad von Abstraktion und Konzeption geht vielen Menschen schon zu weit. Ich konnte das ja während meiner Schulzeit mitverfolgen: während viele Mitschüler sich merken konnten wie man eine Aufgabe Schritt für Schritt löst und diesen Lösungsweg gerade mal replizieren konnten hat mir das nie viel gebracht - ich musste das Prinzip dahinter verstehen und damit kann man sich den Lösungsweg immer wieder zusammenbauen. Musste ich eben für das Eltern/Kind Beispiel auch, denn natürlich wusste ich die Formel nicht mehr (wobei mir "E minus 2K" irgendwie bekannt vorkommt).

Wenn ich das mit der Persönlichkeitspsychologie zusammenwerfe dann führt das zu sehr interessanten Fragestellungen: Inwieweit wird Intuitives Denken "gemacht", inwiefern ist das angeboren oder erlernt und wenn die zukünftige Menschheit immer mehr davon braucht wie kommt man da hin? Außerdem hat es ja schon vor der Erfindung der Schrift bahnbrechende Erfindungen gegeben und es musste auch damals schon Menschen gegeben haben die über ihre konkrete Welt hinaus gedacht haben.

Konzeptualisierung Hardcore

Das nächste Beispiel behandelt wohin diese Konzeptualisierung führt wenn man sie wirklich Hardcore betreibt, am Beispiel von Johannes Kepler. Der hatte ja bekanntermaßen Zugriff auf die Bahndaten der Planeten von Tycho Brahe bekommen und diese waren sehr genau. Aber das Modell der feststehenden Kristallsphären auf denen sich die Planeten und die Sonne wie von einem Uhrwerk angetrieben um die Erde bewegen machte irgendwie keinen Sinn. Zuerst kam eine Supernova dazwischen, eine Veränderung der Sterne die es bei den unveränderlichen Kristallsphären nicht hätte geben können. Dann auch noch ein Komet, der diese Spären auf seinem Weg hätte zerstören müssen. Also musste das Kopernikanische Modell mit der Sonne im Zentrum richtig sein. Aber warum bewegen sich dann die weiter außen befindlichen Planeten langsamer? Basierend auf Analogien, dass zum Beispiel Licht oder Geruch schwächer wird wenn man sich von der Quelle entfernt kam er zum Schluss, dass die Antriebskraft der Sonne auf die Planeten eben auch mit der Entfernung schwächer wird, auch wenn das Konzept einer unsichtbaren Kraft zu dem Zeitpunkt noch völlig unbekannt war, außer vielleicht beim Magnetismus. Also vielleicht so etwas wie ein Boot in einem Strudel? Aber die Planeten bewegen sich nicht auf Kreisbahnen, die Meßwerte waren da sehr genau. Und das die Planeten mit sich mit ihrem eigenen Willen im Strudel aktiv steuern? Macht auch keinen Sinn. Also bleibt nur, dass sich Planeten und Sonne tatsächlich anziehen und je größer, desto stärker diese Anziehung. Und demnach zieht auch der Mond an der Erde und verursacht die Gezeiten. Und die Planeten kreisen in einer Ellipsenbahn um die Sonne mit dieser in einer der Brennpunkte und entsprechend langsamer wenn sie sich auf ihrer Bahn entfernen.

Newton hat später dann da weitergemacht, mit dem berühmten Apfel. Wenn der auf die Erde fällt, müsste es der Mond doch auch tun ... er hat Keplers Konzept weitergetrieben und dann als Gravitationsgesetz formuliert, mit beiden Massen und dem Abstand als Faktoren und daraus dann die Massen von Erde, Mond und deren Abstand bestimmt.

Was im Buch jetzt nicht steht: Nicht jede Persönlichkeit ist zu so einer Hardcore-Konzeptualisierung fähig, das geht ja noch einen Schritt weiter als der Gegenwartsbezug der Sensortypen. Genauer gesagt ist das eine Spezialität der INTPs. Meine Stärken als INTJ liegen da ein bisschen anders. Weniger bei dieser extremen Konzeptualisierung, dafür mehr im Bereich der praktischen Vernetzung von Konzepten.

Epstein erwähnt das am Beispiel von "Duncker's Bestrahlungsproblem": Man ist Arzt und hat einen Patienten mit einem Tumor. Man hat auch eine Strahlenquelle die den Tumor zerstören kann. Ist die Strahlung aber stark genug um den Tumor zu zerstören dann beschädigt sie auch das Gewebe auf ihrem Weg dorthin. Wie kann man den Patienten retten?

Die Aufgabe geht noch weiter, wenn man nicht von alleine auf die Lösung kommt gibt es verschiedene Analogien und mit zwei solcher Analogien kommen statt der 10% spontan schließlich 80% auf die Lösung.

Ich kam nicht nur spontan auf die Lösung, sondern habe dafür vielleicht nur 15 Sekunden oder so gebraucht, weil ich eben dafür auf eine riesige Quelle eigener Erfahrungen und Analogien zurückgreifen kann und das eben auch ständig mache. Das habe ich ja hier im Blog schon häufiger unter "Introverted Intuition" beschrieben.

INTJs sind also weniger gut darin radikal neues zu entwickeln, aber eben herausragend darin, konkrete Probleme mit ihrem vielfältigen Erfahrungsschatz zu lösen in dem sie eben Konzepte aus völlig unterschiedlichen Lebensbereichen uminterpretieren können.

Spezialisten und Generalisten

Epstein räumt ziemlich gründlich mit der landläufigen Meinung auf, dass in einer zunehmend komplexeren Welt nur noch Spezialisten ihre Fachgebiete verstehen und zum Fortschritt beitragen können. Das Gegenteil ist der Fall - während Spezialisten immer tiefer in den Gräben ihres Fachgebietes versinken und nicht mehr sehen was im Graben neben ihnen passiert sind es eben die Generalisten die Ideen und Konzepte von einem Fachgebiet in ein anderes transferieren und damit Probleme lösen und Fortschritte erzielen können. Selbst das wurde schon wissenschaftlich untersucht. Bei einem Forschungsprojekt haben die Forscher in verschiedenen Laboren andere Forscher beobachtet, durfen aber natürlich nicht eingreifen. Zwei Labore hatten ungefähr das gleiche Forschungsfeld in Mikrobiologie, nur das eine Team bestand aus lauter Mikrobiologen während in dem anderen auch Generalisten oder Forscher mit Erfahrung in anderen Bereichen zusammenarbeiten. Als beide Labore auf das gleiche Problem stießen, konnte das Team mit dem Chemiker das Problem lösen, das andere nicht (und der Beobachter wusste die Lösung, durfte die aber gemäß den Bedingungen nicht verraten).

Natürlich haben die Spezialisten ihren Platz - wenn ich einen Leistenbruch habe dann ist der Arzt in München der das wie oft am Tag minimalinvasiv macht sicherlich die bessere Wahl. Das ist aber eben eine "gute" Lernumgebung: es gibt ein klares Problem - den Leistenbruch - und der Effekt ist einfach zu beurteilen. Die Lebensgefährtin meines Vaters hat aber jetzt ein Problem mit einer anschwellenden Lippe und rennt seit Monaten von Spezialist zu Spezialist, vom Hautarzt zum Neurologen zum Allergologen und keiner kann helfen und keiner weiß was der andere macht. Mal wird es besser, dann wieder schlechter. Eben richtig "böse". Möglicherweise ist es ja auch ein psychisches Problem. Die Spezialisierung geht so weit dass es unter Ärzten der Witz kursiert dass es demnächst Ohrenärzte für linke und rechte Ohren gibt.

Was man sich hier wünscht ist ein Generalist, der von allem etwas Ahnung hat, im Zweifelsfall einen Spezialisten heranzieht und damit zumindest einmal einen Weg zur Lösung hat. Kommt das bekannt vor? Die Fernsehserie heißt Dr. House. Ein bildliches Beispiel: Fahrradspeichen alleine mögen ja sehr gut sein in dem was sie tun - Zugkräfte in ihrer Längsrichtung übertragen - aber man braucht unbedingt auch eine Nabe, die die vielen Speichen aus allen Richtungen eben zusammenführt damit ein Rad draus wird.

Vor dem Hintergrund ist es nicht weiter verwunderlich, dass erfolgreichere Forscher auch vielseitige Interessen haben, bis hin zu Nobelpreisträgern die nebenbei Schauspieler, Tänzer, Zauberkünstler, Musiker, Bildhauer, Maler, Glasbläser, Dichter oder Schriftsteller sind. Je erfolgreicher, desto häufiger diese Vielseitigkeit. Echte Innovation und Spezialisierung schließen sich also in Wirklichkeit aus.

Erfahrung von außen, Querdenken, Superforecaster und das Festhalten an Strukturen

Das Buch geht dann noch weiter auf diese Vielseitigkeitsaspekte ein. Von der Pharmafirma, bei der ein mutiger Mitarbeiter gegen den Widerstand der Chefetage ungelöste Probleme gegen Belohnung online gestellt hat und dann tatsächlich funktionierende Lösungen aus den unmöglichsten Ecken bekam. Oder Nintendo, deren Erfolg darauf basierte dass sie neue Anwendungen für eigentlich veraltete Technik gefunden hatten - der Gameboy war technisch viel schlechter als die Produkte der Konkurrenz, aber eben mit viel mehr Spaßfaktor, mit Displays die Sharp mal für Taschenrechner entwickelt hat. Oder der Effekt bei Zukunftsprognosen, die umso schlechter werden je besser die Experten in ihren Fachgebieten sind. Den Experten fällt es schwer überhaupt zu sehen warum sie falsch liegen während die Treffer hoffnungslos überbewertet werden. Es gab ein denkwürdiges Experiment, wo verschiedene Teams regelmäßig Vorhersagen abgeben mussten. Ein Team bestand aus den besten Experten, das andere aus intelligenten gewöhnlichen Menschen mit weitgefächerten Interessen aber ohne besonderen Hintergrund. Die Experten sind total untergegangen. Sowohl einzeln als auch in der Zusammenarbeit als Gruppe, da war der Effekt sogar noch stärker.

Und schließlich geht das Buch noch auf die Challenger-Katastrophe ein. In der NASA gab es zu der Zeit den an und für sich guten Grundsatz, dass man wissenschaftlich handelt und Argumente mit Daten belegen muss. Bei der entscheidenden Konferenz war die Datenlage aber mau - es gab Probleme, aber je nachdem wie man die vorhandenen Daten zu den gebrochenen Dichtungen ausgewertet hat gab es verschiedene Interpretationen. Einer der untergeordneten Techniker der sich mit dem Dichtungsproblem befasst hat hatte zwar "ein schlechtes Gefühl" bei so tiefen Temperaturen zu starten, konnte das aber eben nicht beweisen und hatte deshalb keine Chance (die Startverzögerung wäre teuer gewesen).

Wenn man auf Probleme stößt, hält man sich eben an den funktionierenden Werkzeugen fest. Das sind im Beispiel mit der Mathematik die gelernten Lösungswege oder bei der NASA eben "trust the data". Und je schlimmer es wird, desto stärker der Effekt - bis hin zu den Buschbrandbekämpfern in den USA, die mit ihren Werkzeugen in das Waldbrandgebiet abspringen. Regelmäßig passiert es, dass diese Leute vom Feuer eingeholt werden obwohl sie sich hätten retten können wenn sie ihr Gepäck und Werkzeug fallengelassen hätten. Stattdessen findet man die Männer verbrannt, die Kettensäge immer noch in der Hand haltend.

Bei der NASA gab es nach Challenger das GravityProbeB-Projekt und dort hat man dann auf denjenigen gehört, der bei dem Stromversorgungsmodul "ein schlechtes Gefühl" hatte. Es war ziemlich teurer, die bereits tiefgekühlte Sonde wieder auseinanderzunehmen und den Start zu verschieben, einzig und alleine auf die Tatsache hin dass es zuvor mit der Stromversorgungseinheit einmal einen nicht wiederkehrenden Aussetzer gab - man hat dann insgesamt 18 Fehler in der Einheit gefunden.

Unter Wernher von Braun gab es neben der klaren Hierarchie und Aufgabenverteilung auch eine Quervernetzung, bei der die aktuellen Probleme jedes Teams in einem Rundschreiben zusammengefasst wurden die dann alle anderen lesen mussten. Teamübergreifend konnte dann auch jeder zu den Lösungen beitragen. Genauso wurde das Vorbringen von Problemen nicht bestraft, sondern teilweise auch belohnt.

Später änderte sich das auf einen rigiden Top-Down-Prozess wo die Informationen nur noch an den Projektleiter gingen und als Folge davon fiel der Vorteil dieses Systems weg. Stattdessen wurde ein Mitarbeiter gerügt, der nach dem Start der Columbia auf eigene Initiative und abseits der offiziellen Kanäle beim Verteidigungsministerium nach Bildmaterial vom Start gefragt hat.


Generalisten und die Gesellschaft

Und ab hier muss ich meine Erfahrungen und Beobachtungen loswerden und das deckt sich eben ziemlich genau mit dem letzten Beispiel: Die Gesellschaft mag eben die Querdenker (damit sind nicht die Corona-Leugner gemeint!) und Generalisten nicht. Im Prinzip ist das ja auch kein Wunder, denn die Generalisten sind nur eine kleine Teilgruppe der sowieso schon kleinen Gruppe der Intuitiven. Und selten ist meistens schlecht, was die Akzeptanz betrifft.

Gerade in Deutschland kann nur etwas werden wer sich als Spezialist mit den notwendigen Befähigungsnachweisen schmücken kann. Ein Wort, was deutscher nicht sein könnte. Erfolg kann man in den allermeisten Fällen nur haben, wenn man dem vorgezeichneten Weg folgt und sich früh auf ein Fachgebiet spezialisiert. Das geht ja sogar so weit, dass man gewerblich nur dann einen Fahrradrahmen und eine Kiste Teile zusammenschrauben und verkaufen darf wenn man zuerst eine dreijährige Lehre als Zweiradmechaniker und dann nochmal für mindestens ein bis drei Jahre die Meisterschule besucht. Dabei ist das in Wirklichkeit ziemlich simpel wenn man etwas handwerkliches Geschick hat, das habe ich auch schon gemacht. Aber eben nur privat.

Für die Mehrheitsgesellschaft ist es eben nicht vorstellbar dass man etwas kann ohne es vorschriftsgemäß gelernt zu haben. Das ist uns schon mehrfach begegnet wenn wir von Zuschauern nach unserer Modell-Dampflok gefragt wurden: "Sie sind sicher Zerspanungsmechaniker und haben das gelernt?".

Bei der Musik schreibt Epstein über das barocke Venedig, wo die bahnbrechenden, die Komponisten inspirierenden Musiker die Frauen aus den Waisenhäusern waren, die neben ihrem Dienst im Waisenhaus auch mehrere Instrumente gespielt haben.

Heute muss man selbst im Jazz (in der "klassischen" Musik sowieso) an den richtigen Musikhochschulen studiert und danach bei den richtigen Leuten Meisterkurse absolviert haben um Erfolg zu haben. So jemand wie Django Reinhardt wäre in Deutschland einfach nicht möglich. Der Mainstream geht sogar so weit und passt die Vergangenheit diesem Bild an, siehe Richard Wagner. In der Wikipedia steht nur, dass er 1931 in Leipzig ein Musikstudium begonnen hat und zusätzlich Kompositionsunterricht beim Thomaskantor genommen hat. Also genau das Prinzip wie oben. In Wirklichkeit waren das wohl nur wenig erfolgreiche sechs Monate Kontrapunkt und schon im Januar 1833 taucht er in Würzburg auf, das kann also nicht viel Studium gewesen sein - er war eben weitgehend Autodidakt, der gelernt hat in dem er Partituren anderer Komponisten abgeschrieben hat. Aber das kann eben nicht sein, wer so ein Werk hinterlassen hat, muss das eben "richtig" gelernt haben.

Bei Antonin Dvorak ist das ähnlich, der hat nur zwei Jahre Orgelschule im Alter von 16 bis 18 absolviert, dort geht man so weit und schreibt unter Ausbildung noch "das zweimal jährlich auftretende Orchester des Cäcilienvereins unter Leitung von Anton Apt". Kann auch nicht viel gewesen sein, aber in Deutschland sind die Lehrer und ihre Namen eben sehr wichtig.

Das Problem ist aber nun grundsätzlich, dass Erfolg und Fähigkeiten eben nicht direkt miteinander verknüpft sind. Erfolg hat sehr viel mit Startbedingungen und Herdentrieb zu tun und da macht sich eben der oben erwähnte Startvorteil enorm bemerkbar. Wer die richtigen Referenzen in seinem Lebenslauf aufführen kann kommt wie der Typhusdoktor in den Genuss einer selbsterfüllenden Prophezeiung, denn "er muss das ja können".

Und dazu kommt noch eine weitere Erkenntnis aus dem Komplex der Persönlichkeitspsychologie und Soziologie: An den Schalthebeln sitzen eben überwiegend Alphas, wahrscheinlich auch noch mehr ESTJ als ENTJ. Und gerade erstere haben notorische Probleme mit der Verteidigung ihrer Autorität. Und das ist eben etwas wofür die außerhalb der Rangordnung (als Sigmas) stehenden Generalisten eben nicht viel übrig haben. Respekt vor der Leistung und den Führungsqualitäten ja. Aber Respekt alleine aus dem Amt ... nö. Also geht es in diesem Umfeld eben auch sehr viel darum die bestehenden Strukturen, Einflussbereiche und eben der oben genannten Werkzeuge zu verteidigen und dann passen diese Quertreiber wirklich nicht ins Bild.

Dieses Festhalten an den gewohnten Strukturen begegnet mir eben ständig. Eines der ständig wiederkehrenden Muster ist dass ich mit meiner unkonventionellen Erfahrung und Vielseitigkeit an vielen Stellen erkenne wie man es besser machen könnte. Nur wenn ich dann versuche diese Verbesserungen an den Mann zu bringen bin ich noch jedesmal auf die Nase gefallen. Selbst wenn ich meine Hilfe gratis angeboten habe. Die bestehende Ordnung, die vorhandenen Regeln sind eben für die Menschen wichtiger als ein optimales Ergebnis. Entweder man hält den Mund und hält sich an die Regeln oder man lässt es halt bleiben. Mit seinen unkonventionellen Ideen ist man eben einfach ein Störenfried. Schade wenn man denkt was da an Potential vergeudet wird.

Generalisten können es sogar besser (in manchen Fällen)

Ich gehe sogar so weit zu sagen, dass Generalisten zumindest in bestimmten Fällen sogar bessere Arbeit abliefern können als die Spezialisten. Wenn man Handwerker nimmt: die haben eben auch mal keine Lust, der Feierabend steht vor der Türe und Anleitungen liest der echte Handwerker sowieso nicht. Wenn man ständig dasselbe macht wird es schnell zur öden Pflichtvorstellung (eben "schaffen gehen"). Und dann kommt noch der Chef und sagt dass es schnell gehen muss, denn Zeit ist halt Geld.

Der Generalist hingegen weiß, dass er nicht alles weiß und liest zuerst mal die Anleitung und recherchiert im Internet. Dann kompensiert er das fehlende Wissen mit besonderer Sorgfalt und Genauigkeit, man will ja sicher sein dass man es richtig macht. Die Zeit spielt keine Rolle, denn man lernt dabei ja was und je länger es dauert desto besser der Lernerfolg. Es braucht nicht viel Vorstellungsvermögen um zu sehen dass das Ergebnis leicht besser als das des Spezialisten sein kann.

Es gibt zwar zwei Haken daran: Zum einen kann es passieren dass der Generalist etwas übersieht was für den Spezialisten selbstverständlich ist. Und zum anderen funktioniert das nur wenn man quasi unendliche Versuche hat, wie zum Beispiel beim Programmieren. Funktioniert es nicht ändert man den Code und versucht es nochmal. Bei der Blinddarm-OP geht das nicht, da muss der erste Versuch klappen.

Und das Prinzip funktioniert eben nur im Kontext des Generalisten. Die Küchen, die ich jetzt in Ermangelung von Monteuren mit meinem Vater zusammen montiere sind höchstwahrscheinlich die am saubersten montierten Küchen die unsere Firma je ausgeliefert hat. Aber ich kann das eben nicht fünf Tage die Woche, 46 Wochen im Jahr. Wenn ich das ein paar Tage hintereinander gemacht habe, muss ich einfach etwas anderes machen. Und der schnöde Mammon spielt auch eine Rolle, denn wenn man diese sorgfältige und genaue Arbeitsmoral hat dann kann man das nicht einfach abwerfen und dann braucht man einfach zu lange und es wird unrentabel.

Ein weiterer Fall wo der Generalist den Spezialisten mit Leichtigkeit schlägt sind die Fälle, die der Spezialist überhaupt nicht erst annimmt, weil es außerhalb seines Fachgebietes liegt. Auf Deutsch: "Man bekommt keinen der es macht". Zum Beispiel hat ALNO vor ca. 22-30 Jahren seine Schubkastenfronten mit Zinkdruckgussteilen an den Zargen befestigt. Durch Materialermüdung brechen diese und natürlich gibt es keine Originalersatzteile mehr. Nur mit viel Glück würde man jemanden finden der für 100€ aufwärts einen kompletten neuen Schubkasten einbaut und die alte Front dranschraubt. Plus Fahrtkosten. Als Generalist sieht man zuerst als Küchenspezialist den Bedarf, schlüpft dann in die Rolle des Ingenieurs und konstruiert einen neuen Fronthalter, den man dann in der Fertigung per 3D-Druck herstellt. Und den gibt es für 20€ und kann der Kunde selbst austauschen. Ich bin aber meines Wissens der Einzige bei dem diese Faktoren zusammengekommen sind. Die Nachfrage ist zwar nicht groß, aber immerhin. Für die Betroffenen dürfte es ein echter Segen sein.

Oder die Software, die ich mir um meinen Bedarf herumprogrammiert habe, bei der die Erfahrungen in der Praxis direkt in die Weiterentwicklung eingeflossen sind. Nicht so, dass man bei der Softwarefirma der man 500€ im Monat bezahlt einen Antrag auf ein neues Feature stellen muss, dass dann in einem Jahr oder gar nicht kommt.

Fazit

Das Buch ist wirklich empfehlenswert zu lesen (es gibt auch eine deutsche Übersetzung). Und es muss eine Menge Menschen geben die sich davon angesprochen fühlen denn ich war offensichtlich nicht der Einzige der dem Autor eine Mail geschrieben hat. Unsere Gesellschaft hat eben nur das notorische Problem dass sie diejenigen die den tatsächlichen Fortschritt erst ermöglicht haben grundsätzlich marginalisiert, ignoriert und ihnen überhaupt das Leben schwer macht. Erfolg ist notorisch kurzlebig und schnellen Erfolg erzielt man auf dem althergebrachten Weg. Die Frage wird nur angeschnitten aber sie stellt sich - für die Zukunft der Menschheit müsste sich an deren Zusammensetzung und dem Umgang mit den Quertreibern wirklich etwas ändern. Was nützt es wenn es Menschen gibt die die zukünftigen Entwicklungen vorhersehen können, man aber einfach nicht auf sie hört? Oder andere ihre Umgebung verbessern könnten, aber aktiv daran gehindert werden weil es das Gewohnte auf den Kopf stellt? Das Buch ist voller Beispiele, aber es sind eben immer nur kleine Nischen in denen die Generalisten Erfolg hatten. Oder man hat gleich das Schicksal von van Gogh: zu Lebzeiten ignoriert, nach dem Tod gefeiert. Na Danke.

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